Schicksale / Stories / PIctures

In Gottes Hand

 

Eine der journalistischen Grundregeln besagt, dass der Berufsstand neutral berichten soll. Das ist genau so naiv, wie sich am Grundgesetz zu orientieren und von einem Abgeordneten zu verlangen, er solle bei Abstimmungen nur „seinem Gewissen“ folgen. Objektivität funktioniert immer nur in begrenztem Umfang, schon das Stellen bestimmter Fragen verschiebt die Perspektive auf eine subjektive Ebene. Zum Beispiel die Frage, was die Syrer eigentlich angestellt haben, dass man ihnen in Europa größtenteils mit achselzuckender Gleichgültigkeit begegnet?

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat das syrische Drama als eine der größten humanitären Katastrophen der letzten Jahrzehnte klassifiziert. Unvorstellbare sieben Millionen Menschen sind auf der Flucht, zwei Millionen davon fanden in den Nachbarländern Zuflucht, also vor allem in der Türkei, im Libanon und in Jordanien. Das entspricht fast der Bevölkerung der Schweiz oder Österreichs. Folgt dieser Feststellung ein kollektiver Aufschrei, eine konzertierte Hilfsaktion, etwas, was sich mit der Hilfe für Rumänien vergleichen ließe, die half, dem Land nach dem Sturz des sozialistischen Regimes über die ersten Monate hinwegzukommen? Der großzügigen Spendenbereitschaft, die bei den Hungerkatastrophen in Afrika oder nach dem Tsunami in Asien Geldbörsen öffnete? In der Türkei leben geschätzt eine Million Syrer, Deutschland hat sich bereit erklärt, 5000 der Flüchtlinge aufzunehmen – und fast gleichzeitig verbreitet sich die Nachricht, dass Chemikalien, die für die Herstellung von Giftgas verwendet werden können, vor Jahren aus Deutschland in den Nahoststaat geliefert wurden. Auch das bleibt weitgehend unkommentiert – es glaubt ja heute noch niemand, dass man damit vielleicht nicht nur Haarshampoo produziert hat.

Vermutlich ist es die Tatsache, dass in Syrien ein inzwischen fast unübersichtlicher Bürgerkrieg herrscht, die die Menschen im reichen Teil Europas zurückschrecken lässt.  Wer hilft, hat es gerne eindeutig: Wer ist in einem Konflikt gut und wer ist böse; bei den Opfern einer Naturkatastrophe, gegen die Menschen weitgehend machtlos sind, ist das Bild ohnehin klar. Syrien dagegen ist ganz anders.

Der Bürgerkrieg in dem Nahostland dauert mittlerweile schon zweieinhalb Jahre lang. Entwickelt hat sich der Konflikt, als Andersdenkende im Zug des arabischen Frühlings gegen den Diktator Baschar al-Assad protestierten. Assad junior ist der dynastische Nachfolger seines Vaters Hafis al-Assad, der vor über 40 Jahren nach einem Staatsstreich an die Macht kam und damit eine demokratisch gewählte Regierung aus dem Amt putschte. Eine objektive Tatsache, die inzwischen hinter der Realpolitik weitgehend verblasst ist. Denn auch wenn das hierzulande kein Politiker offen ausspricht – der Westen kann mit einem Diktator, der sein Volk weitgehend im Zaum hält und dessen wirtschaftliche oder politische Interessen denen Europas oder der USA zumindest nicht direkt entgegen stehen, ganz gut umgehen. Das Ganze wird überlagt von einem konfessionellen Konflikt, für denen den meisten Europäern das Verständnis fehlt. Der Assad-Clan gehört der schiitischen Minderheit der Alawiten an, die Mehrheit der Bevölkerung besteht aber aus Sunniten. Um die Konstellation zu begreifen, könnte man sich auf Deutschland übertragen folgendes Bild vorstellen: Die SPD, die bei der Bundestagswahl rund ein Viertel der Stimmen erhalten hat, reisst die Macht an sich und regiert die nächsten vier Jahrzehnte gegen den Rest der Bevölkerung.  

Die zunächst friedlichen Proteste der Opposition im März 2011 wurden von den Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen, danach schlitterte das Land immer tiefer in den Bürgerkrieg, der im Spätsommer 2013 durch einen massiven Giftgaseinsatz eskalierte. Inzwischen ist die Lage völlig unübersichtlich geworden, da sich zahlreiche ausländische Kräfte und Söldner eingemischt haben. So kämpfen Angehörige iranischer Militär- oder Milizverbände ebenso wie die schiitische Hizbollah, die ihre Basis im Libanon hat, auf Seiten der Regierungstruppen. Radikalislamistische Kämpfer betätigen sich ebenfalls in Syrien und verfolgen dort ihre eigene Agenda. Ein ehemaliger ranghoher Angehöriger der türkischen Streitkräfte erklärte, es könnten bis zu 700 verschiedene Gruppen und Grüppchen sein, die inzwischen in die Kämpfe verwickelt seien. Wer da gegen wen kämpft, welche Allianzen sich gebildet haben, ist kaum noch auszumachen.

 

 

Es ist eine private Hilfsaktion, die am Tag vor dem Weltkindertag Akzente setzt und den bislang größten Hilfskonvoi aus Europa in Richtung Nahost in Bewegung setzt. Die Hilfsorganisation „Luftfahrt ohne Grenzen“ transportiert unter dem Motto „Convoy of Hope – Wings on Wheels“ elf Sattelzüge mit Hilfsmaterial nach Gaziantep, eine Großstadt unweit der türkisch-syrischen Grenze. Babynahrung, Decken, Zelte die einigen Flüchtlingen helfen werden, den Winter zu überstehen, Rollstühle, zwei voll ausgestattete Krankentransporter, Medikamente und Impfstoffe. In der Türkei stoßen zwei weitere Trucks zum Konvoi, auf denen unter anderem Nahrungsmittel wie Zucker und Mehr geladen sind, die in der Türkei gekauft wurden. Der Konvoi ist nur möglich, weil sich die Daimler AG bereit erklärt hat, die Sattelzüge zu stellen und die Transportkosten zu übernehmen.

 

Wenige Tage vor der Abfahrt treffe ich mich noch mit einem Syrer, der inzwischen nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland zurück gekehrt ist in seine Heimat. Auf dem Handy hatte er einige Bilder aus Syrien gespeichert. Höhlen, in denen Menschen unter unvorstellbaren Bedingungen vegetieren und nicht viel mehr versuchen, als über den nächsten Tag zu kommen. Auf dem Papier ist der Unterschied zwischen Höhle und Hölle ja gerade einmal ein Buchstabe. Er erzählte von den Folterungen, der Scham der Menschen, die hungern und versuchen, das selbst vor guten Freunden oder nahen Verwandten zu verstecken. Von Babys, die sterben, weil die Eltern keine Möglichkeit haben, Nahrungsmittel zu besorgen. „Schließ’ deine Augen und denk’ einen Augenblick darüber nach, wie lange ein Mensch aushalten kann zu sehen, was wir in den letzten Monaten gesehen haben,“ sagte der Syrer schließlich. Müde, nervös und mit dem Gedanken daran, dass er seine Frau und die Kinder, die bei unserer Unterhaltung mit dabei waren, vielleicht nicht wieder sehen wird. Und wenn doch, weiß er, dass er sein Leben lang an dem leiden wird, was in den vergangen Monaten um ihn herum passiert ist.

Nachdem der Transport am Ziel angekommen ist, fahren wir ein paar Kilometer weiter zur Grenze. Der Übergang bei Kilis ist kurz zuvor geschlossen worden, nur noch „humanitäre Transporte“ dürfen passieren. Der Grund sind heftige Kämpfe in einem Dorf, das nur wenige Kilometer von den Schlagbäumen entfernt ist. Gleich daneben der gibt es ein wildes Camp, in dem einige Dutzend Flüchtlinge hausen. Die Zustände dort sind geradezu unbeschreiblich. Was die Menschen erlebt und durchlitten haben, sprengt die Vorstellungskraft. In der Türkei sind sie vorläufig in Sicherheit – mehr aber auch nicht. Weil sie (noch) außerhalb des offiziellen Hilfsprogramms sind – das längst an seine Grenzen gestoßen ist – erhalten sie keinerlei Unterstützung. Ein Flüchtling erzählt, er habe keine Gelegenheit gehabt, zu duschen, seit er die Grenze zur Türkei überquert hat. 46 Tage ist das jetzt her. Kein Wunder, dass sich Krankheiten und Parasiten rasant ausbreiten. Ein anderer zeigt seine Schussverletzungen und die Spuren brutaler Folterungen. Die Syrer leben unter primitiven „Zelten“ aus Plastikplanen, alten Säcken oder dünnen Decken. Wie die Migranten den Winter überstehen sollen, ist uns ein Rätsel. An einem anderen Übergang liegt ein angeschossener Mann auf einer Trage und kämpft um sein Leben.

Vor allem die Kinder leiden unter dem Krieg, der sie entwurzelt hat. Sie können nicht zur Schule gehen, medizinische Versorgung – zum Beispiel für die beiden kranken Jungen, von denen einer einen offenen Gaumen und der andere ein Loch im Herzen hat – ist nicht in Sicht. Zum Spielen haben sie nur Kieselsteine und dürre Äste. Eigentlich wäre noch viel Hilfe aus dem reichen Teil Europas nötig, um die größte Not zu lindern.

Gut, dass es wenigstens diesen Konvoi gegeben hat – vielleicht finden sich ja doch noch einige Nachahmer. 

(Dieser Text wurde für die Wochenendbeilage des Donau Kurier verfasst und am 19./20. Oktober 2013 veröffentlicht)

 

back